Die Begründung der Jury
Der Uwe-Johnson-Preis 1995 wird an den Autor Walter Kempowski für seine literarische Collage „Echolot. Ein kollektives Tagebuch“ vergeben. Das 3.000 Seiten umfassende kollektive Tagebuch der Monate Januar und Februar 1943 collagiert Stimmen von Opfern und Tätern zu einem epochalen Tableau der Erinnerung. Indem der Autor Tagebuchnotizen, KZ-Statistiken, Fotos, Wehrmachtsberichte, Briefe und Zeitungsausschnitte sinnfällig zueinander in Beziehung setzt, vermittelt „Echolot“ jenen zwiespältigen Eindruck von Idylle und Grauen, wie er für das damalige Zeitgefühl bestimmend war.
Neben den vergleichbaren deutsch-deutschen Erfahrungen und dem Mecklenburgischen Erzählhintergrund ist es vor allem die dokumentarische Methode erinnernder Vergegenwärtigung, die das gesamte Werk von Walter Kempowski mit dem von Uwe Johnson in Beziehung setzt. Mit dem „Echolot“ zeichnet die Jury deshalb nicht nur eine eindrucksvolle dokumentar-literarische Leistung aus, sie ehrt damit zugleich eine lebenslange Übung in Gerechtigkeit.
Aus der Dankesrede von Walter Kempowski zum Uwe-Johnson-Preis
„(…) Ich kann nicht geradesagen, daß ich mich um die Freundschaft zu Uwe Johnson gerissen hätte. Er selbst hat mich aus mir unbekannten Gründen in sein Herz geschlossen, hielt mich überhaupt für schutzbedürftig. Wie er ja überhaupt Menschen, von denen er annahm, sie würden von der Gesellschaft benachteiligt, energisch verteidigt. Noch kurz vor seinem Tode habe ich es erlebt, daß er für Hans-Werner Richter eintrat. (..) Uwe Johnson hatte mich in sein Herz geschlossen, deshalb nannte er mich wohl auch gern `Graf Kempowski´, obwohl ich als Hanseat feudalen Verhältnissen fernstehe. (…) Nehmen wir an, ich wäre vor ihm gestorben und es hätte einen Walther Kempowski-Preis gegeben und Uwe Johnson hätte ihn zuerkannt bekommen. Vielleicht hätt er sich genauso gefreut wie ich, jetzt zu dieser Stunde. (…).“
Das Echolot-Projekt
Aus einer Fülle von Briefen, Tagebüchern, Aufzeichnungen namenloser und prominenter Zeitgenossen, aus Bildern und Dokumenten hat Walter Kempowski in jahrelanger Arbeit eine gewaltige Collage, ein einzigartiges Werk komponiert. Es ist eine minutiöse, bisher nie geleistete Rekonstruktion von Alltagsgeschehen und historischen Ereignissen – ein kollektives Tagebuch, das den Zeitraum 1941-1945 umfasst.
Zum Autor
Walter Kempowski wurde 1929 in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und war während des Krieges als Flakhelfer eingesetzt. Die Zwangszugehörigkeit zur „Strafgefolgschaft“ der Hitlerjugend (1944/45) wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ war für ihn mit Drangsalierungen verbunden. Nach einer Druckerlehre wechselte er 1947 in den Westen nach Wiesbaden. 1957 holte Kempowski in Göttingen das Abitur nach und studierte anschließend Pädagogik.
Bei einem Besuch in Rostock wurde er 1948 der Spionage beschuldigt, von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und war bis 1956 im Zuchthaus Bautzen inhaftiert. Von 1960 bis 1980 arbeitete Kempowski als Landschullehrer in Norddeutschland und ließ sich in Nartum bei Bremen nieder. Dem Schriftsteller gelang rasch eine literarische Karriere, die ihn zu einem der meistgelesenen deutschen Gegenwartsautoren gemacht hat. Sein Debüt erfolgte mit dem Buch „Im Block“ (1969), einem Bericht über seine Haftzeit in Bautzen.
Im Mittelpunkt von Kempowskis literarischem Schaffen steht sein Romanzyklus über eine bürgerliche Familie. Als erstes Buch präsentierte er 1971 „Tadellöser & Wolff“, das die Jugend Kempowskis unter den Verhältnissen des Nationalsozialismus und des Krieges schildert. Es folgten die Bände „Uns geht’s ja noch gold“ (1972) und „Ein Kapitel für sich“ (1975). Mit seinen ersten Büchern machte Kempowski als eine „der ungewöhnlichsten und überraschendsten Begabungen der neueren deutschen Literatur“ auf sich aufmerksam. Bis zu dem 1993 veröffentlichten Mega-Projekt „Echolot“ erschienen zahlreiche Bücher und Hörspiele, für die er Preise und Auszeichnungen erhielt. Gastdozenturen führten ihn an Universitäten in Essen, Hamburg und La Jolla (USA).
Nach 1989 fand Kempowski auch in seiner Heimat große Beachtung. Er wurde Ehrenbürger der Stadt Rostock. Ein großer Teil seines umfangreichen privaten Archivs ist in der Hansestadt öffentlich zugänglich. Das “Echolot-Projekt” wurde 1993 in einer experimentellen szenischen Lesung vom Kammertheater in Neubrandenburg vorgestellt. Walter Kempowski ist verheiratet und hat zwei Kinder. Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007.
Bereits in den Jahren 1990 und 1991 schrieb Kurt Drawert einen kurzen, furios aufwühlenden, sprachgewaltigen Roman, der sich mit dem Ende seines Heimatlandes auseinandersetzt. Für diesen vermutlich ersten bedeutenden Roman über das Ende der DDR wurde ihm der Uwe-Johnson Preis verliehen. Gewidmet ist das Buch Drawerts Söhnen „im Sinne einer Erklärung“. Es erzählt die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung, die Drawert meisterhaft mit zeitgeschichtlichen Ereignissen verknüpft. Zum 25. Jubiläum des Mauerfalls wird dieses erste große literarische Zeugnis dieses Umbruchs neu herausgegeben. Der Band wird ergänzt um die Erzählungen der 90er Jahre, darunter „Haus ohne Menschen“, für das Drawert den Ingeborg-Bachmann Preis erhielt. Thematisch verbundene Essays wie „Polen, eine innere Reise“ und „Go, Trabi, go down“ bieten einen Blick auf die Jahre nach dem Fall der Mauer.
Mirna Funk erzählt die Geschichte einer jungen deutschen Jüdin in Berlin und Tel Aviv.
Nahezu schwerelos erzählt »Frühe Vögel« von einer Erfinder-Dynastie und erfindet dabei das Erzählen auf beeindruckende Weise neu: Theodor Leudoldt will hoch hinaus, am liebsten ganz bis zu den Sternen. Ein ambitionier-tes Projekt in Zeiten des späten Kaiserreichs, doch Visionen kennen keine Grenzen. Seine Tochter Ursula steht ihm in nichts nach. Ihre geheimen Fliehkraftversuche lassen auf nichts anderes schließen: Ihr Ziel ist das All. Nach Kriegsende rückt die Erfüllung des Familientraums durch die Mitarbeit am US-Raumfahrtprogramm näher. Auch wenn Frauen für das Astronautentraining nicht zugelassen sind, das Schicksal der frühen Vögel erfüllt sich dennoch – Ursulas Tochter wird die erste Frau auf dem Mond.
Bresekow, ein Dorf in Vorpommern. Als die alte Frau Hanske stirbt, kommt ihre Tochter Ingrid mit ihrer Familie aus Irland zur Beerdigung. Ingrid hatte Bresekow vor vielen Jahren fluchtartig verlassen. Der Besuch verändert vieles im Dorf, wirft gerade für die Familien Ploetz und Wachlowski alte und neue Fragen auf. Die Dorfbewohner beginnen zu sprechen, über ihr derzeitiges Leben und ihre Verstrickungen von damals. Bresekow war immer eine kleine Welt, eng, abgelegen und heute zudem vom Verfall bedroht.
Ein Ethnologe in einer Lebenskrise, ein Kinderbuchautor mit einem Bestseller und einer Ruine am Luganer See, eine finnische Ärztin, ein kleiner Junge ohne Vater, ein mysteriöser Freund, ein sterbender Hund und ein verstecktes Manuskript: Thomas Pletzinger macht daraus eine hochspannende, aberwitzige und anrührende Geschichte.
Eduard, der Mathematiker und Zeitpedant, liebt Anna, die Sängerin. Und zum Glück liebt Anna auch Eduard. Es geschah einfach so, eines Tages in einer Erfurter Konsum-Filiale, der Anna als Leiterin vorsteht. Den lieben langen Tag singt sie in ihrem Filialleiterbüro und hat mit ihrer Stimme nicht nur Eduard sirenengleich angelockt. Paul Händl, Eduards Freund aus Kindertagen, geht es hingegen nicht um die Kunst, sondern um die verlorene Heimat, ums Egerland, aus dem sie alle nach Kriegsende vertrieben wurden: Eduard und seine Mutter Ella, Paul und sein wetterwendischer Vater, die Regalsteher im Braumann’schen Laden und Exgeheimrat Emil Gumpl. Hier in Erfurt ringen sie seither mit ihren Erinnerungen wie die Dämmerung mit der Nacht. 1969, am Tag des Eishockeyspiels UdSSR gegen CðSSR, bricht Paul zu einer Kundgebung für die Rechte der Sudetendeutschen nach Prag auf. Auch Eduard landet, ganz gegen seine Absicht, zur selben Zeit in der tschechoslowakischen Hauptstadt, und von da an lungert einmal nicht die Erinnerung in ihren Köpfen herum, sondern schlägt die sozialistische Gegenwart zu. Bis Eduard sein Gedächtnis verliert, die Erfurter Domuhr explodiert und ein Stück deutsche Geschichte vor dem Vergessen bewahrt wird.
Die achtzehnjährige Marie Schattauer, das bezaubernde, scheinbar naive Kind masurischer Gebetsleute, verliebt sich, zwischen Geboten und Gelüsten hin- und hergerissen, im August 1937 in den lebenslustigen Leutnant Hermann Eckstein und folgt ihm gegen den Willen der Eltern nach Westen. Es ist ein Aufbruch in glückliche, in finstere Zeiten – in die Liebe und den Krieg.

Markus Frank (geboren 1965 in Bremen) ist Rechtsanwalt bei Gentz und Partner. Markus Frank lebt in Berlin und ist seit 2012 Mitglied im Kuratorium des Uwe-Johnson-Preises.
