Jenny Erpenbeck erhält den Uwe-Johnson-Preis 2022

Der mit 20.000 Euro dotierte Uwe-Johnson-Preis 2022 wird Jenny Erpenbeck für ihren Roman „Kairos“ (Penguin Verlag) verliehen. Die fünfköpfige Jury wählte aus einer Vielzahl an eingesandten Texten aus den Bereichen Prosa und Essayistik die diesjährige Preisträgerin aus. Die feierliche Preisverleihung findet im Rahmen der Uwe-Johnson-Tage am Freitag, dem 23. September 2022 in der Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern in Berlin statt.

Die Jury begründet ihre Entscheidung für Jenny Erpenbeck folgendermaßen:

Gedächtnis und Erinnerung, das sind seit Jenny Erpenbecks Debüt mit der „Geschichte vom alten Kind“ (1999) zentrale Achsen ihres vielgestaltigen Werkes. In diesem Roman spielt das scheinbare Gegenteil von Erinnerung eine Rolle, nämlich das Vergessen. Eines Tages steht ein Mädchen nachts in einer Geschäftsstraße, das sich an nichts erinnern kann oder will. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Art Kaspar-Hauser-Motiv. Allerdings geht es im weiteren Verlauf um eine umgekehrte Sozialisation. Die Möglichkeiten einer weiblichen Biografie erkundet Jenny Erpenbeck fünffach im Roman „Aller Tage Abend“ (2012). Einige Jahre später hat Jenny Erpenbeck in einem brillanten Essay über das Erinnern nachgedacht. Ausgangspunkt ist eine Traueranzeige in einer Berliner Zeitung, die frühere Schüler anlässlich des Abrisses ihrer Grundschule geschaltet hatten. Die Grundschule lag zwischen Leipziger Straße und Springer-Hochhaus im Osten Berlins. Was passiert, fragt sich das Ich, wenn Orte verschwinden.
Diesem Vorgang des Verschwindens, des Vergessens, des Aus-dem-Gedächtnis-Fallens war Jenny Erpenbeck schon in dem Roman „Heimsuchung“ (2008) und sodann in ihren wundervollen Miniaturen „Dinge, die verschwinden“ (2009) nachgegangen. Dabei hatte sie bedacht, wie es sich mit Artefakten, Zeiten oder Personen verhält, die plötzlich nicht mehr existieren. Was Jenny Erpenbeck hier zum Problem der Erinnerung markiert, das kommt durchaus der Überlegung von Uwe Johnson nahe, der schon früh danach gefragt hat, was „von einem Menschen übrig (bleibt) im Gedächtnis seiner Umgebung“. Genau diese Johnson-Frage führt nunmehr an den Kern des Romans „Kairos“. „War der Augenblick ein glücklicher, in dem sie damals, als neunzehnjähriges Mädchen, Hans traf?“, fragt Katharina im Prolog.
Auslöser für das Erinnern ist die Mitteilung von Hans‘ Tod, vor Jahrzehnten war Hans ihre große Liebe. Nun stehen vor ihr zwei große Kartons, in denen sich Teile der Geschichte der beiden finden: Briefe, Aufzeichnungen, Notizen, Einkaufszettel, Jahreskalender, Fotos, Postkarten, Collagen. Katharina ergänzt diese Fundstücke um eigene wegsortierte Briefe, Tagebücher, alte Mappen. Aus der Gegenwart geht die Protagonistin zurück in das Jahr 1986, mithin in die Endphase der DDR. Die Struktur des Romans ist mit „Karton I“ und „Karton II“ gesetzt und in entsprechende Kapitel gegliedert. Über das Erinnern entsteht eine Art Prosanetz, in dem die Geschichte einer großen Liebe zwischen Euphorie, Enttäuschung und zunehmendem psychologischen Druck erzählt wird.
Die Protagonistin ist 1967 geboren, ihr Partner Hans ist 34 Jahre älter. Auf diese Weise verbinden sich die Prägungen zweier Generationen – jener, die den DDR-Sozialismus ausrief und jener, die sich in ihm nicht mehr wiederfand – mit einer besonderen Liebesgeschichte. Jenny Erpenbeck gelingt eine nahtlose Verbindung von Privatem und Öffentlichem, die zur Folie für einen Roman wird, der sowohl die Ideale des Beginns in den Blick bekommt, wie auch das Scheitern jenes Staates, den Uwe Johnson einmal als „wünschenswert“ bezeichnet hat. Unmerklich und literarisch faszinierend werden dabei Ankerpunkte gesetzt, die Hinweise auf das geben, was man kulturelles Gedächtnis nennt: Zitate aus Liedern, Gedichten, Theaterstücken, philosophischen Schriften, Losungen oder Wandzeitungsüberschriften. Die Veränderungen in der Liebe sowie die zunehmende Bedeutung der unterschiedlichen Erfahrungen innerhalb des sich wandelnden gesellschaftlichen Systems erkundet die Autorin mit einer Sensibilität, die in der Tradition des Schreibens von Uwe Johnson steht.

Der Jury gehören an: Gundula Engelhard (Geschäftsführerin der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft), Carsten Gansel (Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Universität Gießen; Sprecher der Jury), Cornelia Geißler (Kulturredakteurin der Berliner Zeitung), Michael Hametner (ehemals leitender Literaturredakteur und Moderator bei MDR FIGARO) und René Strien (ehemaliger Geschäftsführer des Aufbau Verlages und seit 2018 Geschäftsführer des OKAPI Verlages Berlin).

© Maximilian Merz

Irina Liebmann erhält den Uwe-Johnson-Preis 2020

Der mit 20.000 Euro dotierte Uwe-Johnson-Preis 2020 wird Irina Liebmann für ihren Roman »Die Große Hamburger Straße« (Schöffling & Co.) verliehen. Die sechsköpfige Jury wählte aus einer Vielzahl an eingesandten Texten aus den Bereichen Prosa und Essayistik die diesjährige Preisträgerin aus. Die feierliche Preisverleihung findet im Rahmen der Uwe-Johnson-Tage am Freitag, dem 9. Oktober 2020, in der Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern in Berlin statt.

Die Jury begründet ihre Entscheidung für Irina Liebmann folgendermaßen:

Gedächtnis und Erinnerung sind zentrale Achsen im Gesamtwerk von Irina Liebmann, in dem es nach Reportagen und Hörspielen mit „Berliner Mietshaus“ (1982) ein vielbeachtetes Prosadebüt gab. Von Beginn an ging es ihr darum zu erzählen, „wie etwas wirklich ist“. Damit waren schon früh Koordinaten für eine Poetologie gelegt, die Bezüge zu der von Uwe Johnson haben. Es geht nämlich immer auch darum, „Herkunft, kenntlich zu machen“ und „in Kenntnis (zu) leben“. Dazu hat Irina Liebemann sich immer wieder auf eine akribische Spurensuche begeben. Für den Roman „In Berlin“ hatte sie einen Erzählton gefunden, der es möglich machte, die inneren und äußeren Bewegungen vor und nach 1989 zusammenzubinden. Nun schließt sich der Kreis dieses einzigartigen Schreibprojekts mit dem Roman „Die Grosse Hamburger Strasse“. Irina Liebmann hat in diesem Text ein Prosa-Netz entworfen, in dem unterschiedliche Zeitebenen kunstvoll miteinander in Verbindung gebracht werden, die Spanne reicht vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Über Adressbuchauszüge, Straßenpläne, eigene Tagebuchnotizen, Protokolle, Traumsequenzen, Reime, Metaphern werden Töne in Moll und Dur angeschlagen und Zeit-Schwingungen erzeugt, die Vergangenes und Gegenwärtiges verbinden. Entstanden ist ein Roman in Bildern, und mitunter ähnelt die Sprache einem Prosagedicht. Die Leser, die durch Anreden direkt einbezogen sind, stehen wie die Autorin vor der Frage: „Wie kam das? Was war denn der Weg bis hierher?“ Gemeint sind die Schicksale jener, die in der „Grossen Hamburger“ gelebt haben und die wie etwa die jüdischen Bürger, „Berliner wie wir“, ab 1942 in die Todeslager deportiert wurden. Behutsam und wie eine Archäologin trägt Irina Liebmann Zeitschichten ab, und sie lässt dabei auch jene zu Wort kommen, die sich heute noch erinnern wollen. Jahrzehnte liegen dazwischen. Im Heute erinnert eine nunmehr alte Frau an das Traumatische der Vergangenheit, das „Herzeleid“ und betont, was gegen die Angst geholfen hat: „Lesen. Nur Lesen.“ Irina Liebmann ist das Gegenteil einer planlos umherschweifenden Flaneurin. Sie hat sich – angefangen mit Notizen für ein Romanprojekt aus den frühen 1980er Jahren – dem Stoff immer wieder genähert, und sie ist dafür zurückgekehrt in diese Straße. Sie weiß daher um die Schrecknisse der Vergangenheit und um die Geschichten von Hoffnung und Verrat. Aber es reicht das Anschlagen einer Taste, wie auf einem Klavier, um Denk-Räume zum Klingen zu bringen: Der Berliner Verlag, „`Gavroche` von Victor Hugo“, „`Feuertaufe` von diesem Gaidar“, Hitler, die deutschen Juden, „Mephisto in Moskau“! Irina Liebmann hat lange nach einem Weg gesucht, um das Material zu einer Geschichte zu formen. Und vielleicht war es letztlich so, wie bei Uwe Johnson: „Die Geschichte sucht, sie macht sich ihre Form selber“.

Der Jury gehören an: Carsten Gansel, Professor für Neuere deutsche Literatur und Literatur- und Mediendidaktik an der Universität Gießen (Sprecher); Gundula Engelhard, Geschäftsführerin der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft; Michael Hametner, ehemals leitender Literaturredakteur und Moderator bei MDR FIGARO; Thomas Hummitzsch, freier Kritiker; René Strien, ehemaliger Geschäftsführer des Aufbau Verlages und seit 2018 Geschäftsführer des OKAPI Verlages Berlin; und Almut Thölking-Baulig, Leiterin der Kulturredaktion im NDR Landesfunkhaus Mecklenburg-Vorpommern.

Foto: Maximilian Merz

 

Uwe-Johnson-Preis 2016 geht an Jan Koneffke für seinen Roman „Ein Sonntagskind“

Uwe-Johnson-Preis 2014 geht an Lutz Seiler für seinen Roman „Kruso“

Uwe-Johnson-Preis 2012 geht an Christoph Hein für seinen Roman „Weiskerns Nachlass“

Uwe-Johnson-Preis 2010 geht an Christa Wolf für ihren Roman „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“

Uwe-Johnson-Preis 2008 geht an Uwe Tellkamp für seinen Roman „Der Turm“

Uwe-Johnson-Preis 2006 geht an Joochen Laabs für seinen Roman „Späte Reise“

Uwe-Johnson-Preis 2003 geht an Norbert Gstrein für seinen Roman „Das Handwerk des Tötens“