Der mit 5.000 Euro dotierte Uwe-Johnson-Förderpreis 2025 wird Kurt Tallert für sein Buch »Spur und Abweg« (DuMont Buchverlag 2024) verliehen. Die sechsköpfige Jury wählte aus einer Vielzahl an eingesandten Debüts aus den Bereichen Prosa und Essayistik den diesjährigen Preisträger aus. Die feierliche Preisverleihung findet im Rahmen der Uwe-Johnson-Tage am 26. September 2025 im Schauspielhaus Neubrandenburg statt.
Die Jury begründet ihre Entscheidung folgendermaßen:
»Kurt Tallert hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben, und dies in mehrfacher Hinsicht. Der Autor entschließt sich, dem lange verstorbenen Vater nachzuforschen, als er selbst einen Sohn hat. Dies ist nachvollziehbar. Aber dann folgt bereits das Besondere: Kurt Tallert wächst in den frühen 1990er Jahren im Westen Deutschlands als Kind eines Holocaust-Überlebenden auf, während die Eltern seiner Generationsgefährten bereits aus einer anderen Zeit stammen. Besonders ist auch die Form der Recherche, weil Kurt Tallert nachträglich die Prägungen seiner Kindheit rekonstruiert und in Verbindung damit die Biografie des Vaters aus Dokumenten, Tagebucheinträgen, Notizen oder Zeitungsausschnitten zusammensetzt. Kurt Tallert hat früh ein Bewusstsein entwickelt für den ›meinem Vater zugefügten Schmerz, seine Demütigungen und seine Ängste‹. Aus dieser Erfahrung erwächst die Notwendigkeit zur Selbsterkundung des Sohnes, die den Leser mit einbezieht. Kurt Tallert füllt beim Erzählen Leerstellen der Vergangenheit und wählt Abwege der Erinnerung, um der Spur seines Vaters folgen zu können. Die Spur verläuft quer durch die Gegenwart. Dabei erinnert die Suche an Uwe Johnsons ›Versuch, einen Vater zu finden‹. Nur geht es in diesem Fall um den Zivilisationsbruch, dem der Vater als Siebzehnjähriger ausgesetzt war. ›Buchenwald war Ausdruck einer Vergangenheit, die mich stumm anschrie‹, notiert der Ich-Erzähler. Und an anderer Stelle heißt es: ›Verzeihen ist der Versuch, die Verfehlungen der Vergangenheit durch Sprache gewissermaßen aufzuheben‹. Aber Harry Tallert, der Vater des Autors, den die Nazis zum ›Halbjuden‹ erklärt haben, erlebt im bundesrepublikanischen Alltag der 1960er und 1970er Jahre das genaue Gegenteil, die Abwesenheit eines Schuldeingeständnisses und die Abwehr von Reue, vor allem im Politbetrieb. Welche seelischen Verletzungen sich daraus für den Vater ergeben und wie die erlittenen Traumata weitergegeben wurden, dem nähert Kurt Tallert sich in sensibler Weise. Erst während der Recherche mit Reisen zu Verwandten und in Konzentrationslager findet eine Klärung seiner unbestimmten Erinnerung an den Vater statt. Dabei hat der Autor eine dem Gegenstand angemessene Form gefunden, die zwischen einer essayistisch-dokumentarischen Darstellung und einem psychologischen Erzählen alterniert. Uwe Johnson hat in seinen ›Jahrestagen‹ ein Bild davon gegeben, was es bedeuten kann, mit dem Holocaust als Kind konfrontiert zu werden. Das ist über fünfzig Jahre her. Kurt Tallert belegt eindrucksvoll, dass das Vergangene nicht tot ist, ›es ist nicht einmal vergangen‹.«
Der Jury gehören an: Gundula Engelhard (Stellvertretende Vorsitzende der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft), Carsten Gansel (Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Gießen; Sprecher der Jury), Cornelia Geißler (Literaturredakteurin der Berliner Zeitung), Michael Hametner (ehemals leitender Literaturredakteur und Moderator bei MDR FIGARO), Kathrin Matern (Buchhändlerin, Journalistin und Filmemacherin) und René Strien (ehemaliger Verleger des Aufbau Verlages und Geschäftsführer des OKAPI Verlages Berlin).
Für den Uwe-Johnson-Förderpreis konnten Autorinnen und Autoren oder deren Verlage bis zum 1. März 2025 seit Anfang April 2023 veröffentlichte oder noch unveröffentlichte Arbeiten aus den Bereichen Prosa und Essayistik einreichen. Der Förderpreis würdigt herausragende literarische Erstlingswerke, in denen sich Anknüpfungspunkte zur Poetik Uwe Johnsons finden und deren Blickwinkel unbestechlich und jenseits »einfacher Wahrheiten« auf die deutsche Geschichte, Gegenwart und Zukunft gerichtet ist.
Der Uwe-Johnson-Förderpreis wird von der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft e.V. in Neubrandenburg gemeinsam mit dem Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR und GENTZ Rechtsanwälte und Notare seit 2005 im jährlichen Wechsel mit dem Uwe-Johnson-Literaturpreis vergeben. Die bisherigen Preisträgerinnen und Preisträger sind Arno Orzessek (2005), Emma Braslavsky (2007), Thomas Pletzinger (2009), Judith Zander (2011), Matthias Senkel (2013), Mirna Funk (2015), Shida Bazyar (2017), Kenah Cusanit (2019), Benjamin Quaderer (2021) und Domenico Müllensiefen (2023).
Foto Kurt Tallert © Thomas Schäkel
Inselabenteuer und Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft: Kruso, der erste, lang erwartete Roman von Lutz Seiler, schlägt einen Bogen vom Sommer 89 bis in die Gegenwart. Die einzigartige Recherche, die diesem Buch zugrunde liegt, folgt den Spuren jener Menschen, die bei ihrer Flucht über die Ostsee verschollen sind, und führt uns dabei bis nach Kopenhagen, in die Katakomben der dänischen Staatspolizei.
Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren. Er lebt in Wilhelmshorst bei Berlin und in Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloss er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus. Er unternahm Reisen nach Zentralasien, Osteuropa und war Writer in Residence in der Villa Aurora in Los Angeles sowie Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis und den Fontane-Preis.
Rüdiger Stolzenburg, 59 Jahre alt, hat seit 15 Jahren eine halbe Stelle als Dozent an einem kulturwissenschaftlichen Institut. Seine Aufstiegschancen tendieren gegen null, mit seinem Gehalt kommt er eher schlecht als recht über die Runden. Er ist ein prototypisches Mitglied des akademischen Prekariats.
Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf/Schlesien. 1967 – 1971 Studium der Philosophie und Logik in Berlin und Leipzig. Bis 1979 Dramaturg und Autor an der Volksbühne Ost-Berlin. Seit 1979 freier Schriftsteller. 1994 Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz. 1998 – 2000 Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland. 2014 Ehrenpräsidentschaft des P.E.N.-Zentrums Deutschland.
Los Angeles, die Stadt der Engel: Dort verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center. Sie spürt dem Schicksal einer gewissen L. nach, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte. Ein ums andere Mal wird sie über die Lage im wiedervereinigten Deutschland verhört: Wird der „Virus der Menschenverachtung“ in den neuen, ungewissen deutschen Zuständen wiederbelebt?