Die Jury begründet ihre Entscheidung für Kenah Cusanit folgendermaßen:
»Die Autorin schildert in ihrem Roman einen einzigen Tag im Leben von Robert Koldewey, der sich 1913 in der Nähe von Bagdad befindet. Koldewey agiert als Grabungsleiter des Ortes, der mit der Legende vom Turm zu Babel und vom Glanz Nebukadnezars aufgeladen ist. Die Entscheidung, diesen bedeutenden, aber fast vergessenen Archäologen zur Hauptfigur ihres Romans zu machen, erweist sich als außerordentlich glücklich. Der historische Robert Kaldewey ist einer der letzten Weltentdecker, die das Ganze fassen wollten. Aber zehn Quadratkilometer Babylon auszugraben, das war nicht nur eine Sisyphusarbeit, sondern ein Vorhaben, das selbst Kaiser Wilhelm II. zu viel wurde. Dabei wünschte sich der deutsche Kaiser 1913 nichts sehnlicher, als den ›Ausgrabungskrieg‹ gegen Frankreich und England zu gewinnen. Deutlich vernehmbar spielt mithin Zeitgeschichte am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Hintergrund mit. Doch des Kaisers Mann für diese große Aufgabe ist ein Hypochonder, der sich mit einer Blinddarmentzündung plagt. Von seinem Krankenlager aus blickt er über den Euphrat, die immer mehr ausufernden Grabungen und denkt über Fragen von Wahrnehmung, Vergänglichkeit, die Unterlegenheit der Fotografie gegenüber der Zeichnung oder über die Größe der Frauen nach.
Zunehmend wird dem Leser klar, dass hier zwischen akribisch verzeichneten Korrespondenzen und den burlesken Details zeitgenössischer Museumspolitik existenzielle Fragen des Menschseins verhandelt werden: Es geht um die die Bedeutung von Kultur, um Probleme der Zivilisation oder um Analogien zwischen der Antike und der Moderne. In besonderer Weise gelingt es der Autorin historisches Wissen und Sprachkraft mit Witz und Humor zu verbinden. Die Vernetzung der unterschiedlichen Textsorten, Themen und Codes von Religion und Kunst erfolgt mit leichter Hand und wird in der Schwebe gehalten. Auf diese Weise entsteht ein Roman, der vielstimmig und lustvoll zu lesen ist. Scheinbar mühelos lässt die Autorin die Leser beim Blick über die Schulter des Mannes, der die Wiege der Zivilisation freilegt und dabei kurzerhand das Ishtar-Tor nach Berlin verschifft, einen kritischen Blick auf das werfen, was man Kulturimperialismus nennen kann. Kenah Cusanit sucht sich ganz im Sinne von Walter Benjamin behutsam und umsichtig einer ›verschütteten Vergangenheit‹ zu nähern, um auf diese Weise – wie Uwe Johnson – unter die ›äussere Kruste des Gewesenen‹ zu gelangen.
Mit ihrem Roman öffnet Kenah Cusanit einen in der Literatur selten betretenen historischen Raum, bei dem es um nicht weniger, denn um eine neue Bewertung des Beitrags zur Zivilisation von Orient und Okzident geht.«
Der Jury gehören an: Gundula Engelhard (Geschäftsführerin der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft), Carsten Gansel (Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Universität Gießen, Sprecher der Jury), Andrea Gottke (Leiterin der Kulturredaktion im NDR Landesfunkhaus Mecklenburg Vorpommern), Michael Hametner (ehemals leitender Literaturredakteur und Moderator bei MDR FIGARO), Thomas Hummitzsch (freier Kritiker und Pressesprecher im Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg) und René Strien (ehemaliger Geschäftsführer des Aufbau Verlages).
Für den Uwe-Johnson-Förderpreis konnten Autorinnen und Autoren oder deren Verlage bis zum 31. März 2019 seit Anfang April 2017 veröffentlichte oder noch unveröffentlichte Arbeiten aus den Bereichen Prosa und Essayistik einreichen. Der Förderpreis würdigt herausragende literarische Erstlingswerke, in denen sich Anknüpfungspunkte zur Poetik Uwe Johnsons finden und deren Blickwinkel unbestechlich und jenseits »einfacher Wahrheiten« auf die deutsche Geschichte, Gegenwart und Zukunft gerichtet ist.
2005 wurde der Uwe-Johnson-Förderpreis erstmals verliehen. Die bisherigen Preisträgerinnen und Preisträger sind Arno Orzessek (2005), Emma Braslavsky (2007), Thomas Pletzinger (2009), Judith Zander (2011), Matthias Senkel (2013), Mirna Funk (2015) und Shida Bazyar (2017).
Der mit 5.000 Euro dotierte Uwe-Johnson-Förderpreis wird von der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft e.V. in Neubrandenburg gemeinsam mit dem Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR und der Berliner Kanzlei Gentz und Partner im jährlichen Wechsel mit dem Uwe-Johnson-Literaturpreis vergeben.